Ein “Ruhri” läßt sich ungern bevormunden, nimmt kein Blatt vor den Mund, scherzt auch in Krisenzeiten, arbeitet mit Herzblut, steht seinen Kumpels zur Seite, liebt seinen Garten und Hund, und fühlt sich als HerrIn im Haus des “kleinen Mannes”. Dieses Klischee der Männer- und Familienwelt der Bergleute, regional bekannt durch die literarische Figur des Kumpel Anton, sind nicht ganz ohne Substanz—oder politische Brisanz. Nebst kultureller Vielfalt lässt sich eine Mentalität der Selbstbestimmtheit der im Ruhrgebiet hochkonzentrierten Arbeiterschaft nachzeichnen, die über viele Jahrzehnte im Rahmen organisierter und nicht-organisierter Handlungsmuster das politische Geschehen mitbestimmt hat, und dies auf regionaler, landesweiter und, angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Schwerindustrie, nationaler und internationaler Ebene. Auch Aufstiegs- und Abstiegsgeschichten aus den Jahren des Strukturwandels erzählen von der Bedeutung sozialer und persönlicher Selbstbestimmung, von einem gewissen “Eigensinn”, der auf dem ‚Bei Sich Sein‘ des Einzelnen am Arbeitsplatz beharrt, anderen eine Deutungshoheit abspricht, und subtil ausbeuterische Ordnungen unterminiert. Eigensinn wird oft als kommunikatives Gedächtnis innerhalb von Familien und Interessengruppen fortgeschrieben, als kulturelles Gedächtnis museal tradiert und als Form künstlerischer Kreativität gefeiert. Den kulturellen, sozial-ökonomischen und landschaftlichen Eigenarten des Ruhrgebiets stehen andere, oft widersprüchliche Eigenschaften und Tendenzen gegenüber. Auch wenn die Gefahr einer signifikanten Gentrifizierung des Ruhrgebiets als gering eingeschätzt wird, so müssen sich dennoch altbewährte Muster der Selbstbestimmung und -bewahrung immer wieder neu artikulieren: angesichts der ebenso tradierten Weltoffenheit, Planungsfreudigkeit, Verwissenschaftlichung ganzer Industriezweige und neuer Formen der Verarmung.
Diese Veranstaltung ist Teil der Reihe “Regionale Identifikationen im Ruhrgebiet. Zwischen offiziellen Erinnerungskulturen und alltäglicher Praxis“, die im Mai bis Juli 2025 stattfindet.
Organisation: Stefan Berger (Institut für Soziale Bewegungen, Ruhr Universität Bochum), Frank Hillebrandt (FernUniversität Hagen), Ute Eickelkamp (Deutsches Bergbau-Museum Bochum)