Untersuchung der identitätsstiftenden Bedeutung von Industriekultur im Ruhrgebiet anhand narrativer Interviews
In meinem Pilotprojekt “Untersuchung der identitätsstiftenden Bedeutung von Industriekultur im Ruhrgebiet anhand narrativer Interviews” ist Industriekultur sowohl über ihre materielle als auch immaterielle Dimension unmittelbar mit der Ressource Kohle und der Montangeschichte verbunden.
Die immateriellen Bezüge der Industriekultur zur Ressource Kohle kommen insbesondere an den musealen Orten wie dem Ruhr Museum und in seiner regionalgeschichtlichen Erzählung zum Ausdruck. Das Ruhr Museum steht mit seiner Dauerausstellung im Fokus meiner Untersuchung. Die materiellen Bezüge der Industriekultur zur Ressource Kohle ergeben sich aus den Gebäuden und Flächen selbst: Erhaltungsbemühungen engagierter Gruppen und eine Regionalpolitik der IBA Emscher Park, in der man sich von einer Politik des großflächigen Abrisses abkehrte, ermöglichten den Erhalt der ehemaligen Industriegebäude, an denen Kohle gefördert wurde. Unter dem Gesichtspunkt des Erhalts stellen die Gebäude selbst eine materielle Ressource dar, an die kollektive und individuelle Erinnerungen aus der Montanzeit geknüpft sind, die aber gleichzeitig den Wandel der Region nach der Montankrise erlebbar machen und in den 1990er Jahren zum Symbol des Aufbruchs in der Region wurden.
In der Folge wurde Industriekultur von regionalpolitischen Akteuren im Ruhrgebiet als neue Ressource genutzt, die noch heute zum einen auf die Ressource Kohle verweist, zum anderen Teil einer neuen regionalen Entwicklungsstrategie nach der Montankrise ist. In diesem oppelten Sinne von Erinnerung und Aufbruch sollte und soll Industriekultur zu einer Identifikation der Menschen mit dem Ruhrgebiet beitragen.
Ob und wie sich Formen von Identifikationen mit dem Ruhrgebiet über Industriekultur vollziehen, untersuche ich in meiner Arbeit. Dafür führe ich sowohl mit verantwortlichen Akteuren der Industriekultur als auch Bewohner*innen des Ruhrgebiets (den Rezipienten) narrative Interviews durch. Ich untersuche dabei sowohl die Bedeutung der Orte als auch der Narrative und Mythen an diesen Orten, die sich aus der Montanzeit speisen. Zwar stehe ich noch ganz am Anfang meiner Auswertung, doch wird aus den ersten vorläufigen Ergebnissen meiner Interviews deutlich, dass die Rezeptionen sehr unterschiedlich und oftmals durch die lebensgeschichtlichen Erfahrungen aus der Montanzeit (oder deren fehlender Erfahrungen) beeinflusst sind. In allen Interviews nehme ich Bezug auf die Narrative der Kohle- und Bergbaugeschichte. Meine Interviewgruppe ist bewusst heterogen angelegt, da ich mit unterschiedlichsten Menschen aus der Bevölkerung ins Gespräch kommen wollte. In den Interviews mit ehemaligen Arbeitern finden sich beispielsweise Gefühle des Stolzes über den Erhalt der Gebäude und die Erinnerung der Montan- und Arbeitergeschichte an den Orten. Ich habe mit Interviewpartnern gesprochen, die versucht haben, den eigenen Bruch in der Biografie, der durch die Montankrise herbeigeführt wurde, durch das Engagement an industriekulturellen Orten und an der Gestaltung des Wandels zu überwinden. Daneben finden sich aber auch kritische Stimmen ehemaliger Arbeiter, die die Überfremdung der Orte beklagen, die in ihren Augen nicht mehr ausreichend Referenzpunkt zu den ehemaligen Orten der Arbeit sind. Und ich habe mit Menschen gesprochen, deren Arbeitserfahrungen unter Tage so leidvoll waren, dass sie sich heute von den Orten und deren Erzählungen distanzieren und diese Orte nicht mehr betreten.
Die Orte der Industriekultur und die Erinnerung an die Kohle ermöglichen dann keine positive Identifikation. Anders verhält es sich wiederum, wenn Kinder ehemaliger Arbeiter Orte der Industriekultur aufsuchen, um sich mit der Geschichte ihrer Väter auseinanderzusetzen. Im Fall der zweiten Generation ehemaliger „Gastarbeiter“ ist mir bspw. oft Ärger darüber begegnet, dass die Arbeitsleistung der Eltern in ihren Augen nicht ausreichend abgebildet und gewürdigt wird, wohingegen sich die Eltern selbst von den Orten abkehrten.
Interessant ist aber auch zu sehen, wie Menschen auf die Orte und die Narrative über die Montangeschichte reagieren, wenn sie selbst keine lebensgeschichtlichen Bezüge dazu haben. So finden sich Formen des Stolzes und der Adaption von Bergarbeiterkultur und -geschichte, obwohl es keinerlei biographische Verbindungen gibt, d.h. die Menschen stellen sich selbst in die Tradition des Bergbaus. Dabei vermischen sich erzählte Geschichten mit eigenen Vorstellungen und werden utopisch aufgeladen. Daneben gibt es aber auch Gefühle und Erfahrungen von Exklusion, wenn Menschen die starke Fokussierung der Regionalgeschichte auf die Montanzeit bewusst wird und sie keinerlei montanindustrielle Bezüge in der Familie haben.
Auch die ökologischen Langzeitfolgen der Kohleindustrie werden in meinen Interviews thematisiert und kommen zum Beispiel in Formen von „gebrochenem Stolz“ oder in Gefühlen von Ambivalenz zum Ausdruck.
Ich gebe Ihnen diese ersten vorläufigen Eindrücke aus meinen Interviews, um darzustellen, dass meine Promotion, aber gerade auch mein Pilotprojekt im Rahmen meiner Promotion, eng mit der Geschichte des Kohlebergbaus und der Ressource Kohle verzahnt ist.
Ich verwende den Ressourcenbegriff zum einen in Bezug auf die montanindustrielle Geschichte und deren Narrative, die in der Gegenwart weiter lebendig sind und einem permanenten Wandel wie bspw. auch der angesprochenen Idealisierung unterliegen. Zum anderen verwende ich den Begriff in Bezug auf die Industriegebäude, die eine materielle Ressource darstellen. Und schließlich verwende ich den Begriff in Bezug auf die Industriekultur, welche materielle und immaterielle Dimensionen der Montanindustrie in sich trägt und auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweist. Daraus abgeleitet wird deutlich, dass sich die Verwendung des Ressourcenbegriffs bei mir im Wechselspiel von Vorgabe (bspw. die Gebäude der Montanzeit) und Konstruktion (Narrationen der politisch Verantwortlichen wie auch der Rezipienten) entfaltet. Ressource ist daher nicht nur etwas Gegebenes, sondern entwickelt sich durch die Nutzung der industriellen Gebäude und die Tradierung von Erzählungen, wird also auch produziert.
Constaze von Wrangel
ist seit Herbst 2022 Mitglied bei ReForum. Ihr Pilotprojekt "'Untersuchung der identitätsstiftenden Bedeutung von Industriekultur im Ruhrgebiet anhand narrativer Interviews" ist Teil ihres Projekts "Identitätsstiftung über regionale Kulturpolitik? Kulturpolitische Initiativen im Ruhrgebiet und ihre Resonanz in der Bevölkerung seit den 2000er Jahren".