Drei Tage TAG Edinburgh 2022 – “Revolutions”
Für den sprichwörtlichen Blick über den eigenen Tellerrand war es mir dankenswerterweise durch ReForum möglich, an der 43. Konferenz der Theoretical Archaeology Group (TAG) in Edinburgh teilzunehmen. Vor der malerischen Kulisse des Holyrood Parks im Herzen der Stadt stürzte ich mich in drei intensive Tage voller Neugierde, vielfältiger Themen, fachlicher Diskussionen und heiterer Gespräche, die in den Pausen immer wieder von der Erkenntnis begleitet wurden, dass es den Brit:innen nicht gelingt, einen anständigen Kaffee zu kochen.
Auch wenn die landesweiten Streiks im Verkehrs- und Gesundheitswesen leider zum Ausfall einiger Vorträge führten, schmälerte dies kaum die Bandbreite an internationalen und interdisziplinären Beiträgen (Link zu den Abstracts[1]).
Trotz der planerischen Herausforderung des Session-Hoppings, konnte ich vielen unterschiedlichen Themen lauschen, die mir für meine eigene Theoriebildung und deren Umsetzung neue Perspektiven und Ideen eröffneten. Einige Aspekte, abgesehen vom Festvortrag David Wengrows[2] und speziell eisenzeitlichen Thematiken und Sessions, will ich hervorheben:
Die Session ‘Absence: perspectives from archaeology and heritage’ stellte sowohl einzelne Funde als auch ganze Regionen in den Mittelpunkt und diskutierte die Möglichkeiten, die sich für die Archäologie aus der Auseinandersetzung mit Abwesenheit ergeben. So stellten beispielweise Rebecca Rennell und Emily Gal[3] die Abgelegenheit (remoteness) der Äußeren Hebriden in der Bronzezeit und der Moderne zur Debatte. Sie warfen die Frage auf, ob Inseln als abgelegene Orte eher einen modernen Auffindungsfilter widerspiegeln, anstatt einem gelebten prähistorischen Raumverständnis. ‚Remoteness‘ in diesem Sinne spielte aus forschungsgeschichtlicher Sicht für Südwestfalen eine erhebliche Rolle. Aber es kann auch gefragt werden, wie die alltäglichen Raumpraktiken der Eisenzeit die ‚Abgeschiedenheit‘ bestimmter Orte erzeugten und wie sich diese siedlungsdynamisch auswirkten.
Besonders spannend war die ganztägige Session ‘An Archaeology of Non-human Life’. Die Analyse von chalkolithischen Befestigungsanlagen als lebende Architekturen[4] oder eines kretischen bronzezeitlichen Grabkomplexes hinsichtlich seiner verschiedenen Auswirkungen auf Bewegungen, Sinneswahrnehmungen und spezifische Bestattungspraktiken[5], gaben mir als Anwendungsbeispiele neue Impulse zur eigenen Methodik. Aber es waren vor allem die Ansätze zur Beziehung von Menschen und anderen Lebewesen, die meine Aufmerksamkeit auch unabhängig von meiner eigenen Fragestellung erregten. So standen insbesondere Bieber mit ihren ‚landschaftsformenden Geopraktiken‘[6] und interdisziplinäre Forschungen zu Rentier-Mensch-Beziehungen[7] im Vordergrund. Auch wenn in Südwestfalen kaum direkte Hinweise auf Mensch-Lebewesen-Relationen existieren (abgesehen von einzelnen Pollenanalysen), sollten solche als wichtige Faktoren einer Praxisraum-bezogenen Landschaftsarchäologie im Sinne von ‚Life Worlds‘ stets mitschwingen.
Auch in Bezug auf Deponierungen und deren spezifischen Praktiken (‘Deposition in detail – has there been a revolution, or have we missed it? ’) ergaben sich interessante Ansätze aus den Arbeiten von Lindsey Büster[8] und Sabrina N. Autenrieth[9]. Büster diskutierte die Emotionalität und Praktiken hinter Einzeldepots in späteisenzeitlichen Rundhäusern, die mehrheitlich aus Objektgruppen stammen, denen wenig materieller oder symbolischer Wert zugesprochen werden. Sie argumentierte, dass diese durch assoziierte persönliche Erinnerungen und Gefühle zu Relikten des Alltäglichen würden und daher eine besondere Behandlung erführen. Autenrieth stellte die herkömmliche Kategorisierung von bronzezeitlichen Hortfunden in Typen- oder Funktionsgruppen im Rheintal in Frage und zeigte Alternativen auf, die sich auf die Relation der Funde zum menschlichen Körper beziehen (on-body, in-hand, non-body). In Kombination mit Edward T. Halls Idee der Proxemik (intimate space, personal space, social space) befragte sie außerdem private Niederlegungspraktiken ‚körpernaher‘ Depots gegenüber öffentlichen Gruppenaktivitäten. Die sozialräumlichen Aspekte, die sich insbesondere aus dem zweiten Beispiel ergeben, könnten für die Horte und Einzelfunde auf den südwestfälischen Wallburgen eine neue Komponente eröffnen.
Zu guter Letzt noch einige Worte zu der, wie die Organisator:innen selbstironisch zugaben, Nerd-Session ‘The Elder Trowels: What have archaeologists learnt from time spent in Tamriel (etc.)?’, die ich spontan aufsuchte. Das ‚etc.‘ bezog sich beispielsweise auf den Virtuellen Raum im Allgemeinen oder auf Computerspiele wie The Elder Scrolls und The Legend of Zelda, auf Comic-Superhelden aber auch auf die Fantasywelt von Game of Thrones. Während die Burganlagen der Letzteren nach allen Mitteln der GIS-Kunst kartiert und analysiert wurden, um die Materialität einer immateriellen Welt zu untersuchen[10], diskutierte Mikel Herrán[11] die Temporalität und Dynamik von imaginierten Landschaften. Stephanie Aulsebrook[12] befasste sich mit den Wahrnehmungen von Metallen und der Frage, wer welche (sozial erworbenen) Fähigkeiten benötigte, um deren verarbeiteten Endprodukte überhaupt nutzen zu dürfen. Diese Sitzung verdeutlicht mir insbesondere, wie viel Potenzial manchmal im „Um-die-Ecke-Denken“ steckt.
Mein Dank gilt ReForum, für die Möglichkeit an dieser Tagung teilzunehmen und ich hoffe, die aufgezeigten Ideen und Perspektiven sinnvoll in meine eigene Arbeit einfließen zu lassen. Auch wenn ich den Gewinner:innen des Antiquity-Quiz nicht das Wasser reichen konnte, waren es doch die persönlichen Zusammentreffen bei dem sehr viel schmackhafteren Tee oder Cider in den Pausen und an den Abenden, die am Ende zählen.
Anmerkungen
[1] https://tagedinburgh2022.files.wordpress.com/2022/12/tag-2022-abstract-book.pdf.
[2] University College London.
[3] University of the Highlands and Islands.
[4] Ana Vale, University of Porto.
[5] Anastasia Chysanthi Solomou, Independent Researcher.
[6] Nick Overton, University of Manchester; Shumon T. Hussain, Aarhus University/Kamilla Lomborg, Aarhus University/Nathalie Brusgaard, University of Gronningen.
[7] Anna-Kaisa Salmi/Emily Hull/Päivi Soppela/Sanna-Mari Kynkäänniemi/Henri Wallén, University of Oulu; Morgan Windle, Christian Albrechts Universität Kiel; Sarah Pleuger/Robin Bendrey, University of Edinburgh.
[8] Canterbury Christ Church University/University of York.
[9] University of Bourdeaux.
[10] Jorge Rouco Collazo, University of Granada, Projektlink: https://digibug.ugr.es/handle/10481/58562.
[11] University of Leicester.
[12] University of Warsaw.
Carmen Maria Stähler
promoviert zum Thema „Siedlungsdynamische Prozesse der Eisenzeit in Südwestfalen – Eine Untersuchung zu den Aneignungsprozessen in Siedlungslandschaften des rechtsrheinischen Mittelgebirges“ und ist seit 2022 Mitglied bei ReForum.